Re:Afghane sticht auf österreichische Familie, weil er unzufrieden ist
von Border am 09.03.18 um 15:20
Antwort auf: Afghane sticht auf österreichische Familie, weil er unzufrieden ist von hellbringer

Zweifelsfrei völlig verrückt und erschreckend brutal. Allerdings sehe ich manche Dinge auch zusätzlich aus einem etwas anderen Blickwinkel, seit dem ich mit mehreren Flüchtlingen gesprochen habe. Will sagen: ich habe tatsächlich für Manches etwas entwickelt, was nah an Verständnis rankommt. Nicht Akzeptanz, aber eine gewisse Nachvollziehbarkeit.

Eine syrische Familie wohnt jetzt bei uns im Haus. Vater, Mutter, vier Kinder. Was mir nach einigen Unterhaltungen (die sind 1,5 Jahre hier und sprechen alle (!) besser deutsch als so mancher jugendliche Deutsche) irgendwann in den Sinn kam: wir sprechen immer von tragischen/traurigen Einzelfällen. Irgendwer rastet aus und sticht um sich, ein anderer vergewaltigt ein 15-jähriges Mädchen, der nächste ersticht eine 17-Jährige. Alles Einzelfälle. Gemessen an der Gesamtzahl von Flüchtlingen bzw. Geduldeten ist das tatsächlich so.

Aber... wenn man sich die andere Seite mal anschaut, dann ist der integrierte, psychologisch betreute und unterstützte Flüchtling bei uns ebenfalls ein Einzelfall. Wie du auch sagst, kommt hier das geballte Versagen der gesamten Politik zum Tragen. Und ich spreche hier nicht von einer Obergrenze oder anderem Schwachsinn, sondern von den Dingen, die für diese Menschen getan werden - oder eben auch nicht. Ein Dach über dem Kopf reicht nicht, wenn du jahrelang die Hölle durchlebt hast.

Neulich wurde die Nachbarschaft zu einem Kennenlern-Nachmittag zu den Nachbarn eingeladen. Man stellte sich vor, kam ins Gespräch. Die Kinder spielten zusammen. Ein netter Nachmittag - überraschend gelockert und freundlich.

Meine neuen Nachbarn haben mir Handybilder gezeigt. Da wird einem etwas anders. Nicht nur aus Syrien, sondern auch aus Deutschland. Die Bilder aus Syrien zeigen einen kleinen Vorort von Aleppo. Als Stadt ist da gar nichts mehr zu erkennen. Grau-Braune Ruinen ohne Fenster und Türen, dafür mit fehlenden Stockwerken und hunderten Einschusslöchern im Mauerwerk. Fließend Wasser oder gar Lebensmittel? Nix gibt's!
An einer Ecke ist Schutt aufgetürmt, an einer Seite guckte ein Schuh mit einem Fuß raus. Mehr als der Fuß und ein Teil des Wadenbeins steckte leider nicht in diesem Schuh. Gemessen an der Größe war's nicht der Schuh eines Erwachsenen...
Der Bruder der Familie wurde erst verschleppt, dann gefoltert und schließlich von Hunden (!) getötet. Als "Lektion" wurden gedruckte Bilder davon an Masten geheftet. So hat der Vater davon erfahren. Eine Cousine der Frau wurde von mehreren Soldaten vergewaltigt und wurde nicht mehr gesehen. Sie gilt seit über zwei Jahren als vermisst. Das jüngste Kind ist zwei, die anderen Kinder 4, 6 und 9. Der Neunjährige hat in manchen Momenten etwas von einem zu lange auf zu kleinem Raum eingesperrten Tiger im Zoo. Die Mutter erschreckt sich beinahe zu Tode, wenn vor der Tür jemand etwas lauter die Autotür zuwirft. Als ich neulich abends da war, um den Kindern ein altes Spielzeug unserer Tochter zu bringen, hat draußen jemand die Mülltonnen ausgewaschen. Dabei ist ein Deckel zugeschlagen. Herzrasen und Panik sind noch freundliche Beschreibungen vom Verhalten der Mutter.

Was diese Sechs Menschen gesehen haben, will niemand von uns jemals erleben. Und in Deutschland ging das alles weiter.

Bilder von einer Auffangstation, in der 9 Menschen auf ca. 25qm hausten habe ich gesehen. Aus einer Unterkunft mit ca. 80-90 Menschen und zwei (!) Badezimmer-ähnlichen Räumen. Übrigens: Strafgefangenen stehen 5qm zu. Hygieneverhältnisse unter aller Sau. Ein Video habe ich gesehen, das der Vater von seiner Frau gemacht hat. Er wollte es nach Spanien senden, wo ein Cousin Asyl gefunden hat. Seine Frau stand in einem Netto Discounter am Backwaren-Regal. Es sollte demonstrieren, was jetzt plötzlich alles verfügbar ist... nach Monaten der Flucht und Jahren im Kriegs-Elend. Einfach ein Video nach dem Motto: "Guck mal, wir können endlich wieder leben!" Von links kommt ein Mann ins Bild, der im Vorbeigehen der Frau an den Hinterkopf bzw. aufs Kopftuch spuckt und etwas nuschelt - leider im Video unverständlich. Einfach so... als würde er in der Fußgängerzone gemütlich schlendern. Einmal nach links geguckt und losgerotzt. Da das Video da abbricht, berichtet er mir den Rest so: er ist hingelaufen und hat den Mann schimpfend zur Rede stellen wollen, der daraufhin der Kassiererin signalisierte, dass "der Kanacke" randaliere und er "gefälligst du Hause sein eigenes Scheißland terrorierein" solle. Die Polizei wurde verständigt, war relativ schnell da und Mutter und Vater durften eine Stunde aufs Revier, bevor man sie mit mahnendem Finger, aber ohne weitere Konsequenzen, wieder hat laufenlassen. Der Typ aus dem Laden wurde komplett in Ruhe gelassen. Der damals achtjährige Sohn blieb übrigens mit einem Bekannten der Familie allein mit einem Baby und zwei kleinen Schwestern zurück, weil sie niemand beachtet hat. Ein Filialmitarbeiter bot ihnen immerhin Aufenthalt im Pausenraum an. Was das Baby gegessen hat? Welche Windel ihm gewechselt wurde? Ob es müde war oder durstig? Wen interessiert's?!

Dazu die Geschichten von den Amtswegen. Jeden Tag zum Amt, um dies oder jenes zu beantragen oder nachzufragen, ob dieses oder jenes endlich bearbeitet werden konnte. Ständige Zuständigkeitswechsel und komplett überforderte Mitarbeiter. Teilweise in der Behausung ohne Nahrung, ohne Winterkleidung, ohne Hygieneartikel. Nachts beklaut von den eigenen Leuten - selbst Schuhriemen wurden geklaut! Und dann hast du unter vermeintlich Gleichen dann auch noch verschiedene Glaubensausprägungen, was zu weiteren Konflikten bis hin zu lebensbedrohenden Situationen führte. Der Vater hat fast ein Jahr lang jeden Tag dafür gekämpft, dass er mit seiner Familie irgendwo wohnhaft werden darf. Er durfte nicht arbeiten, seine Frau ebenfalls nicht. Sie hätte es tatsächlich trotz der Kinder getan, wenn er hätte aufpassen können. Er ist Bau-Ingenieur, hat studiert, gutes Geld verdient. Und hier? Barracke, Flöhe, Gestank, Rassismus, Faschismus, Behördenwillkür und psychisch völlig im Arsch.

Und darauf will ich bei alle dem hinaus: er sagte bei diesem Kennenlerntag: "Wissen Sie, wie oft ich in all dieser Zeit dachte 'Wenn mir jetzt einer eine Waffe gibt, sterbe entweder ich oder der Nächste, der vorbeikommt'? Da gab es genügend Situationen, in denen die Verzweiflung so groß war, dass ich einfach nicht mehr konnte. Aber ich habe eine Frau und vier Kinder. Wie soll man da nicht mehr können?!"

Und das ist es, worüber ich in letzter Zeit bei all diesen Einzelfällen nachdenke. Wie kaputt ist ein Mensch? Wie viel hält ein Mensch aus, bis er einfach austickt? Das ist rational nicht zu erklären. Während sich unsere Politik also wie die Kleinkinder um Obergrenzen oder Zuwanderungskanalisierung streitet, sollte man sich vielleicht endlich mal gescheit um die kümmern, die sich irgendwie retten konnten. Psychologische Betreuung, Gesprächsgruppen... nicht vereinzelt, sondern als Maßnahme. Diese Leute haben Jahre des Tötens, der Angst und des Terrors hinter sich. Glauben die denn, die stehen morgens auf und pflücken erst mal ein paar Blümchen auf der grünen Wiese? Die sind völlig im Arsch, mein Gott! Und das Einzige, was Ronny Schrablonski, 36, langzeitarbeitslos und stolzer Deutscher, dazu sagt: "Aufe Schnaudsö für de treggs Ganaggn. Die bring nuor de deutschn Fraun üm un glaun üns de Oarbeit! Un Handys hamse och!"

Ich weiß, dass es die von mir angesprochenen Maßnahmen gibt. Dummerweise aber nicht für alle, die wir hier aufgenommen haben. Hier hat sich der Staat ganz klar übernommen. Und weil das so ist, diskutieren wir über Obergrenzen, lassen aus humanitären Gründen immer mehr Menschen ins Land und die gesamte EU guckt dabei zu, wie sich faschistische Regime Staaten daran aufgeilen, dass sie keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen und die Grenzen abdichten? Die EU hatte mal einen gemeinsamen Auftrag. Banken regulieren und Handelsabkommen treffen... alles wichtiger als die Mitgliedsverpflichtungen bei den echten Herausforderungen unserer Zeit. Bigottes Rattenpack!

Also noch mal: ja, schrecklich, verrückt, brutal, völlig irrational und unfassbar. Und die Tat in Österreich ebenfalls.

Und wer bitte ist für die Webseite vom Standard zuständig? Arbeitslager!!1

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